dawnrider hat geschrieben:Ein paar Worte, bevor Siebi wie versprochen meinen Senf bekommt: ja, Ulle, ich schraube bei meinen Lieblingen tatsächlich die Erwartungshaltung nach unten. Nicht bewusst, das geschieht ganz natürlich. Jedem ist doch klar, dass das Niveau einer Sad Wings Of Destiny oder einer Screaming For Vengeance nie mehr erreicht werden kann. Das kann ich von meinen alten Helden nicht mehr erwarten, das wäre nicht fair. Trotzdem habe ich aber das Verlangen, neues Material zu hören, ich bin eben unersättlich und will immer und immer mehr. Das passiert, wenn Emotionen im Spiel sind.
Auch wenn der Vergleich dem ein oder anderen unpassend erscheinen mag: ich setz‘ doch meine geliebte Ehefrau auch nicht nach vierzig Jahren auf die Straße, weil ihr Arsch faltig geworden ist und sie nicht mehr ganz so knackig ist wie in den 80ern. Und das gestehe ich auch einem Künstler ein. In einem gewissen Rahmen, wenn ich mich verarscht fühle, dann ist auch um. Dieses Gefühl hatte ich bei Priest bislang nicht.
Siebi, ich mag die letztjährige Deep Purple sehr gern, und Du auch. Aber hast Du sie am Maßstab In Rock oder Machine Head gemessen? Das wäre genauso wenig fair.
Ich weiß, ihr seht das anders, und das ist auch OK. Ich funktioniere da eben anders. Das heißt nicht, dass ich das hier und jetzt nicht so sehe, wie es ist, ich werte es aber instinktiv anders.
Zum Sound:
Der ist nicht optimal, stimmt. Die Retribution, die hatte einen perfekten Sound. Die Redeemer ist davon weit weg. Mir fällt auf, dass sie auf jedem Abspielgerät anders klingt. Im Auto ist es am schlimmsten. Die Anlage dort ist recht basslastig und schmiert gern. Das steht der Redeemer gar nicht. Zu Hause ist die Anlage eher bassarm, aber glasklar und sehr unverfälscht. Ich will nicht behaupten, die gewünschte Unsachlichkeit von Studioboxen erreicht zu haben, es geht aber in diese Richtung. Und da gefällt mir der Redeemer, da stört der Sound nicht. Im Büro an den kleinen PV-Aktivlautsprechern klingt es dann recht komprimiert, ist aber nicht weiter schlimm. Kurzversion: Sound ist nicht toll, zerstört aber die Songs nicht.
Der Erlöser der Seelen:
Dragonaut
Intro, schönes Riff. Ich finde, dass Halford immer noch kraftvoll klingt. Und die Bridge ist so typisch, das schmeichelt mir sofort. Ja, Refrain ist unspektakulär, die Melodieführung während der Strophe ebenso, aber die Nummer ist OK. Das Solo gefällt mir auch sehr gut, wie gesagt, der Jungspund macht seinen Job toll.
Redeemer of Souls
Flotter als der Opener, tolle Strophenmelodie und eine Bridge, die das Herz öffnet. Toller Refrain. Halford wirkt auf mich entspannt, was mir gefällt. Das ist kompaktes Songwriting mit der nötigen Eingängigkeit. Das erwarte ich mir von Priest, und das liefern sie auch 2014 noch ab. Wieder gutes Solo übrigens.
Halls of Valhalla
Knackiges, tolles Riff und der erste richtige Scream des Albums. Ja, nicht mehr auf Painkillerniveau, das ist klar. Aber trotzdem bekommt Halford die Schreie deutlich besser hin als der gleichalte Eric Adams es heute kann, oder als Ian Gillan es vor fünf Jahren konnte. Das kann man so durchgehen lassen. Und wieder ein Solopart, wie er priestiger nicht sein könnte. Eine tolle Nummer, ich kann nicht anders, als das zu mögen. Und der Mittelteil ist absolut gelungen und entschädigt für den einfachen Refrain.
Sword of Damocles
Der dritte tolle Song in Folge. Ein schönes, zweistimmiges Lizzythema wird durch den Priestfleischwolf gedreht. Der Refrain ist wieder geglückt, der Mittelteil, beginnend mit dem klaren Gesang und der dramatischen Steigerung wertet die Nummer nochmal auf.
March of the Damned
Nach dem okayen Opener nun schon der vierte Treffer in Folge. Dieser Viererblock ist auch der stärkste Teil des Albums. Halford erinnert mich in der Strophe weniger an Ozzy, sondern an Alice Cooper, und die Bridge tropft ja fast vor Coolness. Klar ist der Refrain simpel, aber so unfassbar cool und aus der Bridge schlüpfend, dass mir das einfach gefällt. Welten über den repetitiven Maidenrefrains der jüngeren Vergangenheit. Ja, ich wäre wohl auch froh, wenn Halford mir das Berliner Telefonbuch vorsingt.
Down in Flames
Tolles Gitarrenintro, wieder Riffs, die sitzen. Ich mochte wieder die Melodieführung während der Strophe, ich finde, Halford gibt sich verdammt Mühe, sich in Sachen Phrasierung nicht zu oft zu wiederholen. Ein Problem habe ich hier zugegebenermaßen mit dem Refrain, der ist nämlich keiner, der taugt höchstens zur Bridge. Nicht auf dem Niveau der Songs 2 bis 5, aber kein Stinker oder Ausfall.
Hell & Back
Im klaren Vorspiel fällt mir mal wieder nicht mehr ein als zu sagen, wie sehr ich diese Stimme liebe. Der Song ist schleppend und groovig, aber kein Highlight. Schwächste Nummer bislang.
Cold Blooded
Wieder besser als die beiden Vorgänger. Erinnert bisher am deutlichsten an die Retribution-Phase. Ich mag die dezente Melancholie, die Halford während den Strophen vermittelt. Wieder eine okaye Nummer.
Metalizer
Die Uptemponummer des Albums. Nicht im Falsett gesungen, das schafft er nicht mehr. Diesbezüglich war Betrayel von der Crucibel wohl das letzte Mal, dass Halford das über Songdistanz überzeugend abliefern konnte. The Mower war ein letzter Versuch, das im Studio einigermaßen hinzuwichsen, hat aber nicht funktioniert. Also lieber wie hier in mittlerer Lage gesungen. Tolle Bridge, toller Refrain, tolles Solo. Passt zu den vier sehr guten Songs zu Beginn des Albums.
Crossfire
Dezent bekifftes 70er-Riff. Trotz Revolution immer noch ungewohnt bei Priest. In diese Richtung tendiert der Song auch ein wenig. Arg minimalistischer Refrain, aber nicht schlecht. Gehört nicht zu den Treffern, auch nicht zu den Stinkern. Ist OK.
Secrets of the Dead
Sehr atmosphärische, doomige Nummer. Geht in die Loch Ness-Richtung, erinnert auch an die schleppenden Parts der Nostradamus. Dazu passt auch die dezente Keyuntermahlung im Hintergrund. Ich mag das, aber ich mochte ja auch die Vorgängerscheibe. Gehört für mich zu den Treffern.
Battle Cry
Und der nächste Treffer. Flotte Strophen, epischer Refrain. Erinnert mich am stärksten an die Halford IV. Beim ersten Hören unspektakulär, und irgendwann merkt man, dass man den Song nicht aus dem Kopf bekommt. Und im Gegensatz zu Ulle finde ich hier gerade den leidenden Halford stark.
Beginning of the End
Die zweite nichtssagende Nummer des Albums. Leider sehr unspektakulär, diese Ballade. Angel beispielsweise war einfach eine Klasse besser. Vielleicht läuft es einem balladenaffineren Zuhören besser rein.
Macht bislang: 2 Stinker, 4 mal gut anzuhören und 7 Treffer. Und ja, die Quote reicht mir und macht mich glücklich.
Und als Zugabe die Bonus-EP:
Snakebite
Rockende, simple 70er-Nummer. Cool gesungen. Bikerrock statt Metal. OK.
Tears of Blood
Wieder typischer Priestmetal, nette Gitarrenriffs, guter Refrain. Bester Song der EP. Treffer.
Creatures
Fieses Riffing, erinnert mich ja an die Stimmung auf der Jugulator, nur ohne deren mechanische Kälte. Modernste Nummer des Albums, Treffer. Hätte ich gerne mit Owens im Jugulator-Gewand gehört. Treffer.
Bring it on
Noch was Hymnisches zum Schluss. Würde sofort auf die IV passen. Wieder ein Treffer.
Never Forget
Die zweite Ballade, und die wesentlich stärkere. Nicht die traurige Tränennummer wie der letzte Track des Albums, sondern viel mehr die melancholische, lebenserfahrene Aussage reifer Männer. Musikalisch anders gelagert, aber vom Spirit her musste ich an die tolle Ballade vom letzten Demon-Album denken. Treffer.
Somit 4:1 nach Toren auf der EP, also unbedingt die Vollversion kaufen.
Fazit:
Der Powermetal-Bewertungsschlüssel gibt vor:
1.0 - 3.0 Ein ganz übles Album.
3.5 - 5.5 Ein mehr oder weniger langweiliges Album.
6.0 - 6.5 Ein in vielen Bereichen ordentliches Album, das nicht mitreißt.
7.0 - 7.5 Ein gutes Album, dem der letzte Kick fehlt, um es dauerhaft auflegen zu wollen.
8.0 Ein Album, das man häufiger auflegen wird.
8.5 Ein Album, das man häufiger auflegen wird und auf jeden Fall Hits hat.
9.0 Ein Album, das dafür sorgt, dass man mitsingt/tanzt/zuckt.
9.5 Ein Album für die Dauerrotation. Kratzt am Klassikerstatus.
10.0 Ein Album, das in jeder Beziehung perfekt ist.
Da kommt für mich eigentlich nur eine 8,5 Frage, ich werde es häufiger Auflegen und es hat Hits. So ist das mit subjektiv objektiven Bewertungen.
P.S.: dass dies mein 666er Beitrag ist, ist reiner Zufall. Darauf einen fünfprozentigen, bayrischen Vollkornsprudel.
Erster Nachtrag: Down in Flames ist nicht OK, sondern der Ohrwurm des Tages und der nächste Hit.
Bei der Halford IV gab's das auch. Songs, die nach 20 Durchläufen einfach da waren und es jetzt, viele Jahre später, immer noch sind. Schwächstes Priest-Album? Die Redeemer hat die Ram it Down, Rocka Rolla und -sorry Max- Turbo wohl überholt.
Soweit sich das nach so kurzer Zeit sagen lässt.