Höchste Zeit für die nächste Geschichtsstunde, nachdem sich für diesen Abschnitt weiter oben sogar Zeitzeugen gemeldet haben. Nach dem Ausstieg von Matos übernahm Pit Passarell den Gesang und die Band schlug eine härtere RIchtung ein. Unterdessen wurde man im Ausland auf VIPER aufmerksam. Limb übernahm das Management, Massacre Records nahm die Band hierzulande unter seine Fittche und in Japan rangierte "Theatre of Fate" in den Import-Charts vor dem "Nevermind"-Album einer Garagenrockschrammelgruppe aus Seattle names NIRVANA.
Im April 1992 begannen dann in München und Hannover die Aufnahmen zum dritten Album. Produziert wurde "
Evolution" von einem aufstrebenden Charlie Bauerfeind, der für einen immer noch klareren, aber auch bodenständigeren Sound sorgte. Die Gitarrenmelodien kamen zum Glück super rüber und der Gesang wurde ebenfalls bestens ins Klangbild integriert.
Wo die Band schon mal in Europa war, schickte die Plattenfirma die Band u.a. auch nach Osteuropa, wo die Band offenbar mehr Alkohol als Fans gewinnen konnte. Und im Studio wurden gleich noch einige ältere Stücke mitgeschnitten, die 1993 in Form der EP "Vipera Sapiens" erschien.
1992 hatte ich dann auch meine erste Begegnung mit der Musik von VIPER. Auf einem
Kassetten-Promo-Sampler gab es den Song "Rebel Maniac" zu hören, der schön flott und melodisch war, aber gleichzeitig alle HELLOWEEN-typischen Klippen mühelos umschiffte und stattdessen südamerikanische Lebensfreude mit einem doch eher gewaltlastigen Text kombinierte. Das machte neugierig auf mehr. So zog ich los und kaufte mir die "Theatre of Fate"-LP, nur um ein ganz anders geartetes Meisterwerk zu hören.
Am 5. Mai 1993 besuchte ein damals 13-jähriger Jutze dann sein erstes Metal-Club-Konzert - Tatort: Rockfabrik Ludwigsburg. Bis dahin hatte ich DIE TOTEN HOSEN und IRON MAIDEN von der Tribüne der Schleyer-Halle aus gesehen, aber das wir nichts im Vergleich dazu, direkt vor der Bühne zu stehen. Es war nicht sooo viel los, da die anwesenden DARK MILLENNIUM-Fans VIPER wenig abgewinnen konnten. Aber ein paar Nasen im Publikum hatten durchaus ihren Spaß. Und die Band, tja, das Quartett rockte vom ersten bis zum letzten Ton. Yves und Felipe waren ständig in Bewegung, Renato trommelte ungestümer als auf den glatt produzierten Platten und Pit merkte man kaum an, dass er durch die Gesang/Bass-Doppelbelastung räumlich eingeschränkter war.
Im Anschluss legte ich mir umgehend die "Evolution"-LP zu (in blau, No. 0505) und entdeckte dort eine Band, die sich elf Lieder lang dermaßen eigenständig neu erfunden hat, dass ein Nameswechsel durchaus eine Option gewesen wäre. Los geht es mit dem punkigen Opener "Coming from the Inside" und dem dystopischen Titelsong, der ungewöhnlich hart klingt. "Dead Light" und "The Shelter" brechen endgültig aus dem Speed-Metal-Korsett aus, bevor "Still the Same" - imho der einzige schwache Song - die erste Seite beschließt. Danach kommen VIPER erst so richtig in Schwung. Statt einfach das Konzept der ersten Hälfte zu wiederholten, gibt es erst einmal akustische Gitarren. Nach dem gefühlvollen Anfang schlägt "Wasted" dann aber um und explodiert in einem der mitreißendsten Gitarrensoli, die ich kenne. "Pictures of Hate" und "Dance of Madness" sind dann eher catchy als heavy, wobei hier einmal mehr das Melodiegespür von Pit Passarell zum Tragen kommt. Zudem profitieren die beiden Songs am meisten von der namhaften Backing-Vocal-Verstärkung (Thomas Rettke und Sascha Paeth von HEAVEN'S GATE). Das außergewöhnlichste und schönste Lied der Platte ist dann "The Spreading Soul" mit gefühlvollem Gesang, Akustikgitarren und geschmackssicheren Streicherklängen. Danach holt einen die runtergerotzte Coverversion von "We Will Rock You" in die Wirklichkeit zurück.
Der große Durchbruch blieb leider aus - zumindest für VIPER. Das mit NIRVANA ist eine andere Geschichte. Immerhin folgte 1993 noch ein Abstecher nach Japan, wo das Live-Album "Maniacs in Japan" mitgeschnitten wurde. Zu acht Songs davon gibt es auf der "Living for the Night"-DVD auch da dazugehörige Bild. Die Aufnahmen klingen roh und wenn man böse sein will, kann man den Gesang bei den alten Songs mit den Quietschgesangsversuchen von Peavy Wagner (RAGE) vergleichen. Neben Songs von allen Alben gibt es noch das RAMONES-Cover "I Wanna Be Sedated" und ein auflockerndes brasilianisches Rockpop-Cover-Lied. Ich weiß nicht, ob die Band sich mit dem Album einen Gefallen getan hat. Aber als Erinnerung an den genialen Live-Auftritt schätze ich die CD sehr.